Krieg war damals, erzählt sie, der große Krieg.
Ihre ersten drei Lebensjahre erlebte sie Krieg, Bombenangriffe. Zerstörte Häuser, Ziegelschuttberge waren alltäglich und doch unbegreiflich, unfassbar für sie:
„Putt, alles putt,“ wiederholte sie wieder und wieder mit ihren zwei Jahren.
Sie im Kinderkörbchen, fuhr die Mutter mit dem Fahrrad zum Haus der Großmutter. Es stand nicht mehr, ein Trümmerhaufen. Volltreffer. Zum Glück war Großmutter in der Arbeit.
Wenn die Sirenen nachts heulten, das auf- und abschwellende Getöse über die Dächer sauste, dem Kind gewaltsam in die Ohren drang, sich langsam in die Seele fraß, die Angst sich wie eine Klammer um den Hals legte, war es mit einem Schlag wach, schon vor der Mutter und stand aufrecht im Gitterbett.
“Alarm, Mama, Alarm!”
Das konnte sie bereits sagen, wenn es wieder so weit war und sie wusste, was zu tun ist. Beeilen muss sie sich, schnell machen beim Anziehen, um rechtzeitig im Luftschutzstollen im nächsten Stadtberg zu sein, bevor die Flugzeuge mit ihren Bomben da sind. Teddybär in den kleinen Rucksack packen. Er darf oben herausschauen. Trinkfläschchen, zum Warmhalten in eine Windel gewickelt und ein paar gekochte Kartoffeln nimmt die Mama. Man weiß nie, wie lange es dauern wird. Im Stollen sitzt die Mutter immer auf einem hölzernen Klapphocker, sie auf ihrem Schoß.
Ach, in der Eile hat Mama heute den Hocker vergessen. Schnell die drei Stockwerke wieder hinauf.
„Bleib da, mein Schatz und warte hier auf mich, bin gleich zurück. Lauf nicht weg!“
Sie steht vor dem Haus. Es ist kalt. Es liegt Schnee. Bald kommt das Christkind. Vielleicht wird es einen kleinen Christbaum bringen? Vielleicht wird Papa auch kommen?
Mama macht bestimmt so schnell sie kann, aber die Sirenen heulen unaufhörlich.
Es ist Alarm!
Und sie weiß, was zu tun ist, sie muss sich beeilen. Viele Leute sind auf der Straße und laufen, laufen, um noch einen guten Platz im Stollen zu bekommen, rennen um ihr Leben. Dort warten sie dann, bis der Angriff vorbei ist, Entwarnung gegeben wird und man wieder hinaus darf. Sie kennt das. Es gab schon zahlreiche Luftalarme. Nicht immer fielen Bomben. Ob es heute welche geben wird?
Es ist Alarm!Wo ist Mama?
Wieder drückt die Klammer um den Hals.
Die Sirenen heulen. Sie kann hier nicht stehen bleiben. Sie kennt ja den Weg zum Luftschutzstollen. Er ist lang und es sind so viele Menschen unterwegs und sie muss dort sein, bevor die Bombenflugzeuge da sind. Mama wird schon nachkommen. Sie marschiert los. Allein.
Vor dem Haus. Die Mutter mit dem Klapphocker. Das Gartentor steht offen. Das Kind ist weg. Sie ruft. Sie schreit. Gott steh mir bei!
„Haben sie ein Mädchen gesehen? Allein! Ungefähr zwei Jahre, blond, mit Zöpfchen, einem kleinen Rucksack und oben schaut ein Teddybär heraus?“
Die Mutter hastet los, ist wie von Sinnen. Endlich, ein erlösender Hinweis.
Jemand zeigt auf eine Menschengruppe. Ein Mann trägt ein kleines Mädchen am Arm. Sie kann nichts Genaues erkennen. Hoffentlich ist es ihr Kind. Ja, es ist ihre Tochter. Gott sei Lob und Dank!
Und im Stollen dann, immer noch drückt die Mutter das Kind fest an sich und es ist für sie der glücklichste Tag, für lange Zeit.
Draußen aber fielen an diesem Tag aus einhundertsiebzehn Flugzeugen eintausendzweihundertsechzehn Bomben auf die Stadt und töteten dabei einhundertachtzehn Menschen.
Ja, daran kann sie sich noch erinnern, heute noch, sagt sie, an diesen langen Weg in den Luftschutzstollen, ganz allein. Aber wenn die Sirenen heulen, heute, brechen die alten Narben auf und sie spürt den Druck um den Hals, immer noch.