Es kam darauf an, ob genügend Zeit war, dass sie vorne bei der Haustüre hinausging, rechts an der Häuserfront entlang, den ganzen Block hinunter und dann noch einmal rechts, den Hügel hinauf, um in die nächste Straße zu gelangen. Meistens war sie zu spät dran und musste die Abkürzung durch den Keller nehmen. Bereits im Treppenhaus, wenn sie daran dachte, kribbelte es ihr im Magen. Wieder durch die dunklen, verwinkelten Gänge, wieder das Gefühl, hinter der nächsten Ecke lauert einer, greift nach ihr, will sie packen, nicht mehr loslassen, einsperren. Sie spürt seine Fingerspitzen im Rücken. Es verschlägt ihr die Luft.
Schnell vorbei an den Holzlagen, die Türe zum Hof erreichen, sie aufreißen.
Wenn sie nur nicht versperrt ist.
Und dann die Steinstufen hinauf.
Nicht stolpern.
Sie rennt. Hinter ihr die Angst. Ein Wettlauf. Sie keucht. Bleibt im Hof kurz stehen. Ist erleichtert. Schaut zurück.
Gut. Wieder geschafft. Nun weiter.
Sie überquert das große, geschlossene Geviert, verlässt es durch die Toreinfahrt und ist auf der Straße. Einige Male hatte Mutter sie am Schulweg begleitet, am Anfang der ersten Klasse.
Jetzt hat sie viel zu tun, mit dem Bruder, hat keine Zeit mehr.
Du bist ja schon ein großes und gescheites und tüchtiges Mädchen.
Die Mutter ist stolz auf sie. Sie konnte bereits mit vier Jahren dem Bruder das Fläschchen richtig halten, ihm die Windeln wechseln und wenn er immer noch weinte, wenn Mutter nicht zuhause war, kletterte sie einfach zu ihm ins Gitterbett, drückte ihn an sich und alles war gut.
Auf den Straßen ist es ruhig. Es gibt zwar keine Gehsteige, aber auch kaum Autos und sie kann gefahrlos auf die andere Seite gelangen. Allerdings, eine schwierige Passage liegt noch vor ihr. Sie zu bewältigen ist täglich eine Herausforderung. Gänzlich unvermutet zweigt im rechten Winkel ein Weg nach links ab, gekiest und zu beiden Seiten von Bäumen gesäumt. Die Stämme schwarz, die Rinde aufgerissen, ein finsterer Säulengang, der zur nächsten Straße führt. An nassen Herbsttagen und im Winter wirkt alles noch unheimlicher. Bevor sie losgeht, bleibt sie immer zuerst einen Augenblick stehen, um Mut zu fassen. Angst hatte sie von Anfang an, allein durch diese Allee zu gehen. In den Rinden der Bäume verstecken sich Gesichter, die sehen sie böse an und Schlangen, giftige Schlangen und Spinnen mit riesigen Körpern, behaarten Beinen, stechenden Punktaugen, Giftklauen.
Ein Biss von ihnen genügt sicher und ich muss sterben.
Schritt für Schritt, die Schultern hochgezogen, macht sie sich auf den Weg. Sie bemüht sich möglichst in der Mitte zu bleiben, den größten Abstand zu den Bäumen einzuhalten. Sie versucht nicht nach rechts oder links zu sehen und richtet ihren Blick starr nach vorne.
Anfang November ereignet sich etwas Unglaubliches. Noch bevor sie den ersten Schritt machen kann, reißt der Kiesweg vor ihren Augen plötzlich auf. Eine Schlucht klafft an seiner Stelle. Felswände stürzten in die Tiefe, die kein Ende nehmen. In ihrem Kopf beginnt es sich zu drehen. Sie überlegt und sucht nach einer Möglichkeit weiter zu kommen. Früher war es ihr nicht aufgefallen, aber jetzt bemerkt sie die Randbegrenzungen des alten Weges. Zwei Linien aus groben Natursteinen ziehen sich vor den Bäumen links und rechts an der Klamm entlang.
So kann es gehen. Ich werde einfach auf den Steinen vorsichtig hinüber balancieren.
Sie bleibt auf der linken Seite, hebt ihren Fuß und stellt ihn behutsam auf den schmalen Grat. Sehr langsam setzt sie den anderen davor. Ihrem Gesicht ist die Anspannung anzusehen.
Ich muss gut aufpassen, denn auf der einen Seite sind die Schlangen und Spinnen und auf der anderen Seite kann ich abstürzen.
Wie eine Seiltänzerin breitet sie die Arme aus um das Gleichgewicht zu halten. Das ist nicht einfach, weil die Steine uneben und schrägflächig sind und sie immer wieder abzurutschen droht.
Was ist, wenn ich in den Abgrund falle? Wer findet mich dann?
Wenn ihre linke Hand einen Baumstamm streift, züngeln die Schlangen oder eine Spinne richtet sich drohend auf. Manche Stellen sind so schwierig zu passieren, dass sie die Gehweise ändern und sich seitlich voranschieben muss, immer einen Fuß an den anderen setzen. So rückt sie nach und nach vorwärts. Die Anstrengung ist groß und sie beginnt zu schwitzen. Gerne würde sie ihre Jacke ausziehen, aber das geht jetzt nicht. Sie darf nicht stehen bleiben.
Die Gefahr, die Schlucht zu überwinden, wurde nicht kleiner im Lauf der Zeit, aber ihr Mut wuchs. Sie lernte immer besser den Grat zu bewältigen, nicht an den Bäumen anzustreifen, Gleichgewicht zu halten. Sie war stolz auf sich, trotzdem erzählte sie niemandem etwas davon.
Mitte April setzten die Bäume Knospen an. An kurzen Stängeln hingen unzählige kleine Bällchen und die Äste waren übervoll damit. Der tiefe Kluft war schmäler geworden und der Weg beinahe wieder hergestellt.
Heute ist genug Zeit und das Mädchen muss nicht die Abkürzung durch den Keller nehmen, sondern läuft vorne beim Haus hinaus, dann den ganzen Häuserblock entlang und hinauf auf den Hügel. Die letzten Tage hat es geregnet und alles ist frisch und sauber und der Himmel leuchtend blau. Und als es später dann in den Kiesweg einbiegen will, bleibt es im selben Augenblick verdutzt stehen. Die ganze Allee ist in Rosa getaucht, ein hell strahlender, rosa Tunnel, die Äste der Bäume biegen sich bis zum Boden, von Blüten schwer. Die schwarzen Stämme verschwunden, der Weg glatt ausgebreitet. Und es kommt ihm vor, dass es über rosa Zuckerwatte geht, über rosa Flamingofedern, durch rosa Wolken schwebt. Es spürt keinen Boden unter den Füßen, alles ist duftig und bauschig.
Gestern hat der Herr Pfarrer in der Schule von der Erstkommunion erzählt.
Und hat gezeigt, wie weit man den Mund aufmachen muss und die Zunge herausstrecken um die Hostie aufzunehmen.
Und dass sie nicht hinunter fallen darf.
Und dass man den Leib Christi nicht beißen darf und warten muss, bis er sich im Mund aufgelöst hat, damit er vom ganzen Körper aufgenommen werden kann.
Und dass alle Mädchen schöne, weiße Kleider anziehen und Blumenkränze im Haar haben müssen und eine eigene Kerze bekommen.
Und heute weiß ich, dass mein Kleid rosa sein muss, mit Rüschen und bis zum Boden soll es reichen.
Und wenn die Sonne scheint, soll es rosa schimmern. So möchte ich das.
Und der Blumenkranz im Haar, soll auch rosa sein. Nur die Kerze darf weiß sein.
Und ich werde zur Großmutter gehen und sie bitten, mir ein solches Kleid zu nähen, gleich morgen.