Was ist wichtig?
Auch wenn heute etwas enorm wichtig zu sein scheint, von großer Bedeutung ist, kann es morgen schon ganz anders werden. Wichtigkeiten verändern sich, kommen und gehen, entwickeln sich. Wichtige Dinge, Objekte können verloren gehen, gestohlen werden, verschwinden, zerbrechen und anderes rückt an die erste Stelle. Dennoch bleiben Kostbarkeiten der Vergangenheit in der Erinnerung erhalten und suchen sich ihren Ort im Lebensgewebe. In Gedanken kann man sie besuchen und sie werden lebendig.
Meine erste Puppe, es war die Puppe meiner Mutter, mit dem zarten, zuckersüßen Porzellangesicht, die Lippen ein wenig geöffnet, Schlafaugen, die sich hinter weichen Wimpern schließen, bekam ich mit vier. Die Frisur, eine Echthaarperücke aus den Haaren meiner Mutter, wurde von einem Friseur extra angefertigt. Ich gab sie meiner kleinen Tochter als sie vier war. Sie rutschte ihr aus den Händen, fiel zu Boden und zerbrach.
Ich rieche einen roten, glänzenden Ball, den mir mein Vater am Morgen meines siebenten Geburtstags unter die Bettdecke steckt und dessen eigenartig scharfer Geruch, ein Gemisch aus Lack und Gummi, mich aufweckt. Er war mein ganzer Stolz eines Sommers.
Da sind ein Paar Schuhe, traumhaft schön, perlschimmerndes Leder, himmelblausilber, die ich mehrere Wochen nicht anziehen wollte, nur ansehen. Ich stellte sie auf die Kommode und hatte ausschließlich Augen für sie. Schließlich probierte ich sie an, trug sie zuerst nur in der Wohnung, ging dann damit doch auf die Straße und habe sie nicht mehr ausgezogen, bis sie verbraucht waren.
Ich sehe mich im Spiegel mit einem violetten Band aus dicker Wolle in den Haaren und ich komme mir damit sehr schön vor. Zu guter letzt nahm ich es ab, drehte es zusammen und warf es ins offene Grab meiner Tochter. Ich wollte es nicht mehr haben.
Lange Zeit verbarg ich ein kleines Haarbüschel der Toten, zusammengebunden mit einem blauen Seidenfaden in der Geldbörse. Ich hatte es immer bei mir. Nun ist es weg. Man hat mir die Geldbörse gestohlen.
Was ist wichtig? Was hat Bedeutung?
Wichtig ist mir heute meine Freiheit, meine Verantwortung für mich. Wichtig sind mir meine Erfahrungen und Lernprozesse, die ich in mein Bewusstsein einfließen lasse, an denen ich reife, die mich weiten.
Wichtig ist der Mann an meiner Seite, seit mehr als fünfzig Jahren, der mich unterstützt und mir Mut macht, der mich wachsen lässt, mit dem ich mein Leben teile und ergänze, den ich liebe.
Wichtig sind auch meine geliebten Söhne, die ich ein Stück ihres Weges begleiten durfte und die jetzt ihr eigenes Leben leben, so, wie es ihrem Wesen entspricht.
Und wichtig sind mir ihre Kinder, meine Enkeltöchter, drei aufblühende junge Frauen, voll Anmut und großer Sensibilität, mein Enkelsohn, ein junger Mann, hilflos noch und ratlos ein wenig und eine kleine Enkeltochter, ein Baby. Möge es in der Fülle der guten Wünsche wachsen können.
Wichtig sind auch mein toter Vater, meine Mutter, mein Bruder, Onkel, Tante, meine längst verstorbenen Großmütter. Sie haben mich geformt.
Immer wieder wichtig sind Begegnungen mit Frauen, die mich berühren, innig sind, die auf meiner Seele Spuren hinterlassen.
Und mein Garten, der jedes Jahr neu ist, jung im Frühling und im Winter dann wie tot in der Erde ruht.
Der mich lehrt, sich auch niederzusetzen und in Geduld und Demut die richtige Zeit abzuwarten.
Der mich lehrt, meine inneren Stimmen mit dem Vogelgesang, dem Rauschen in den Sträuchern, dem Summen auf der Wiese und in den Rosenbüschen zu verbinden.
Der mich lehrt, zu erkennen, wie liebevoll Leben und Tod ineinander verwoben sind und mich lehrt, dass Augenblick und Ewigkeit eins sind.