STRESS
Im Garten für längere Zeit erfülltes Glück, Zufriedenheit, Harmonie, Ruhe und Entspannung zu finden ist eine Chimäre. Diese Gefühle können sich nur kurz einstellen, denn über Nacht schon ist das Gras nachgewachsen, sprießen Unkraut- und Beikräutersamen, liegen unreife Äpfel faulend am Boden, haben die Schnecken bei den Funkien und Lilien ganze Arbeit geleistet, sind Rosenknospen geknickt und abgefressen, haben Wühlmäuse sich aus Tulpenzwiebel ein Festmahl bereitet und der Blauregen ist unter die Dachziegel gekrochen. In der Mansarde zeigen sich bereits die ersten nassen Flecken. Jetzt beginnt der Stress. Wo fange ich an? Wie greife ich ein?

Zum Glück habe ich vergessen, wer mir den Akanthus geschenkt hat, es ist besser so. Ich mag keine Feindschaften. Wie war ich doch begeistert von der für mich damals so außergewöhnlichen Pflanze. Gleich einem Springbrunnen breitet sie ihre schmalen, ausnehmend interessant gezackten Blätter aus, deckt im zweiten Lebensjahr bereits in einem Durchmesser von einem Dreiviertelmeter alles rund um sich ab, fühlt sich überall wohl, im Trockenen, wie auch im Feuchten, im Schatten und in der prallen Sonne, auch dort, wo sonst nichts mehr wachsen kann und hat in ein paar Jahren alle Pflanzen rund um sich verdrängt. Die Form der Blätter war es, die mich faszinierte. Sind sie doch Vorbild für das Schmuckwerk der Kapitelle korinthischer Säulen und vieler barocker Holzschnitzereien. Die Vorlage eines kunsthistorisch bedeutsamen Motives, die Akanthusornamentik, hat Einzug in meinen Garten gefunden. Das war schon etwas Besonderes, ich fühlte mich geehrt.
Und erst die Blüten. Stolz streckt sie ihre mannshohen Stängel nach oben, die mit altrosa-lila-violetten, kunstvoll gebauten Lippenblüten gespickten, den Eindruck von Kerzen machen. Eine stattliche Erscheinung. Oben die schlanken Blütenrispen, unten der gebauschte, grüne Blätterrock bis zur Erde. Eine imposante Erscheinung. Aber dann. Bitte! Vorsicht!
In stillem Gehorsam der Gartenarbeit ergeben, ich war gerade dabei den Lavendel zu schneiden, knallt hinter mir ein Pistolenschuss. Ich schrecke hoch und nehme an, dass der Nachbar Stare vertreiben will. Und wieder ein Knall. Bis ich endlich begreife, es ist nicht der Nachbar. Der Akanthus lässt seine reifen Kapselfrüchte explodieren. Ich habe übersehen, wie sie ihre Farbe von Grün auf Braun wechselten und hatte im ersten Jahr natürlich noch keine Ahnung was das zur Folge hat. Es war ein heißer, sonniger Tag und nun ging es Schlag auf Schlag. Bei Berührung der Stängel oder auch nur durch die Erwärmung in der Sommersonne sprengten sich weitere Kapseln in die Luft und die Samen flogen in hohen Bögen meterweit. Sie zu finden, bevor sie keimen, ist unmöglich und so gibt es immer wieder viele neue Akanthuskinder, wenn ich den Farbwechsel an den Rispen übersehe. Die Samen sind etwas größer als Linsen und rutschen liebend gerne in schmale Zwischenräume, zwischen Gehwegplatten, um diese dann zu einem immer breiter werdenden Spalt auseinander zu drücken. Wenn der Keimling seine reizenden Zackenblättchen zeigt, ist es bereits schwierig, das Pflänzchen mit der Wurzel zu entfernen. Zu weit hat es sich bereits in die Tiefe gebohrt. Da darf ich dann lange stochern und hoffen, dass der Neuaustrieb bald stoppt.
Vergleichbares Verhalten, Pfahlwurzeln in schmale Zwischenräume zu versenken, gibt es auch bei Löwenzahn, der Wilder Karde und bei den Nachtkerzen.

Wenn eine angrenzende Bauernwiese im Frühling im Löwenzahngelb schwimmt, die Blüten als kleine Sonnen gegen den Himmel strahlen, geht mir das Herz auf und ich vergesse, dass über Nacht, an einem sonnigen Morgen, aus den gelben Blüten hauchzarte, kleine, weiße Lampions werden, in die der Wind gerne hineinfährt, sie auflöst und hunderttausende Samen als weiße Wolke in den Himmel steigen. Mit ihren haarigen Flugschirmen bewältigen sie große Distanzen. Da der Löwenzahn eine Ruderalpflanze ist, liebt er nicht nur Schutthalden und offene Erde, er nützt auch jedes noch so kleine Plätzchen, zwängt sich zwischen Gemüse und Blumen und besiedelt mit Vorliebe Ritzen und Spalten auf meinen Gartenwegen. Dass er in den Bergen bis auf zweitausendachthundert Meter hinauf wandert, bewundere ich, aber es tröstet mich nicht. Ich könnte ihn ernten und Sirup, Gelees, Brotaufstrich, aus den Blättern Salat machen, aus der Wurzel Ersatzkaffee. Und wenn auch der Salat noch so gesund ist, er schmeckt mir nicht und für die andern Dinge fehlt mir Zeit und Lust. Die Bienen andererseits sind verrückt nach ihm und der gelbliche Löwenzahnhonig, den sie daraus produzieren, ist etwas ausnehmend Feines.

Auch die Wilde Karde ist eines Tages in meinen Garten getreten und ist mir ein Dorn im Auge. Sie ist borstig vom Scheitel bis zur Zehe, dennoch hat auch sie mich vom Anfang an begeistert. Nicht nur die Stängel sind über und über mit kräftigen Stacheln besetzt, sondern auch die schmalen, ausladenden Blätter am Stängel, an deren Basis in kleinen Trichtern sich nach Regen längere Zeit Wasser hält, die im Volksmund als Venusbecken bezeichnet werden. Auch die stattliche Größe der Pflanze, bis zu zwei Meter hoch, das distelartiges Aussehen, ihre ausladenden Verzweigungen, einem alten Kandelaber gleich, das eigenwillige Blühen machen sie unvergleichlich. Es beginnt mit einem violetten Ring in der Mitte ihres Blütenkopfes, der dann nach oben und unten wandert. Angeflogen von vielen Schmetterlingen, Hummeln und Wildbienen zeigt wie nektarreich die kleinen Blüten sind. Für den Distelfink sind dann im Winter die reifen Samen von großem Wert. Da ich aber anscheinend zu wenig Distelfinken im Garten habe, werden mir die Sämlinge oft zur Qual, die sich zu hunderten ausstreuen, auch wenn ich den hohen Verdienst dieser Pflanze in der Volksmedizin, als Heilkraut und in der Küche voll anerkenne. Sie würde es schaffen, unseren gepflasterten Sitzplatz total für sich zu beanspruchen und wir müssten mit Tisch und Sessel auswandern, wenn ich ihr nicht Einhalt geböte, denn ihr stacheliges, kratziges Wesen duldet niemanden in ihrer Nähe. Da sie zweijährig ist, verbringt sie das Jahr vor ihrer Blüte als unauffällige Blattrosette, die sich flach in den Boden duckt. Trotzdem darf ich sie nicht übersehen.

Im Hochfrühling, wenn die Abende länger werden und mild, und ich gerne bis zur Dunkelheit draußen bleibe, freue ich mich, das gebe ich gerne zu, wenn die Nachtkerzen wieder da sind. Da auch sie zweijährig sind, habe ich das Jahr zuvor bereits ausgewählt, wo einige stehen bleiben können und die unerwünschten Pflanzen entfernt. Täte ich das nicht, würden auch sie am liebsten den gesamten Garten für sich allein bewohnen. Trotzdem sind es immer wieder viel zu viele, weil mir doch ein paar entgangen sind, dadurch ein Weg unbegehbar, eine Rose bedrängt wurde. Dann ist es schwer gegen ihre überlangen Pfahlwurzeln anzukommen. Ohne Spaten geht gar nichts. Und dennoch sind sie Kostbarkeiten der Natur. Angeblich wurden sie schon bei den Urvölkern in Amerika als Gemüsepflanze angebaut und diente den Menschen dort als Nahrungsmittel und Medizin. Ich allerdings esse sie nicht und auch medizinisch versorge ich mich anders. Für mich ist sie einfach ein Blumenwunder. Denn erst am Abend öffnet sie ihre Blüten, macht das in wenigen Minuten in einer fließenden Bewegung, bei der man zusehen kann. In Zeitlupe entrollt sie ihre vier seidigen Blätter und Abendruhe breitet sich aus. Dann wird es auch still in mir. Jetzt ist der Garten geschmückt mit handtellergroßen Blüten, die mit einem strahlenden Gelb in die Nacht leuchten. In der Luft liegt ihr intensiv süßlicher Duft und langsam wird es lebendig ringsum. Die Nachtaktiven schwirren heran, Nachtfalter, Schwärmer und andere Insekten suchen sie auf und holen sich das Süße aus den zitronengelben Blumen. Dieses Blütenspiel, jeden Abend in der Dämmerung ein neues Entfalten, jeden Morgen ein Verwelken, geht weit bis in den Herbst. Die Samenstände wachsen in die Höhe und stehen dann als einsame Säulen mit gelbem Schopf, wenn alles bereits verblüht ist, bis weit in den November. Von den Herbstwinden kräftig gerüttelt, verstreuen sie laufend enorme Samenmengen. Und wieder keimen viel zu viele und suchen sich ihre Plätze wie es ihnen gefällt, die oft unpassend sind, versperren dann in zwei Jahren vielleicht einen Durchgang oder sprengen Ziegel aus der Stufe. Das wird manchmal zum Kampf, denn auch im ersten Jahr können die Pfahlwurzeln bereits unerbittlich sein.